Ich kann mich nicht mehr erinnern was uns dazu gebracht hat, diesen Ort zu besuchen.
Zeugnisse kunstvoller Steinhauerei mit Ornamenten voller Phantasie – liebevolle Worte des Abschiednehmens auf Bögen und Tafeln – Mutter und Kind in inniger Umarmung.
Kleine Säulen und engelhafte Skulpturen, von Moos bewachsen und von Efeu überrankt, ins Erdreich eingesunken oder wie verloren einfach nur daliegend – riesige Laubbäume, die – ihr Blätterkleid für dieses Jahr abgelegt – die kahlen Arme den zahlreichen Krähen als Rastplatz anbieten.
Verwilderte Fliederbüsche und dichte, alte Heckenrosen, die den Platz mit kleinem Buschwerk, Gräsern und Unkraut in friedlicher Nachbarschaft teilen – Amseln und andere gefiederte Gesellen, die am Boden eifrig in den Blätterhaufen scharren, um sich für die kommende kalte Jahreszeit zu stärken – Nebel liegt in der Luft, der sich an einer verrosteten Eisenkante zu einem Wassertropfen sammelt, um von Zeit zu Zeit mit einem sanften Platsch auf die verwelkten Blätter des Huflattichs herabzufallen . . .
Ein Hauch von Ewigkeit scheint über diesem Ort zu liegen, er nimmt mich vom ersten Augenblick an gefangen.
Der Biedermeierfriedhof von St. Marx
Aber, es ist nicht Melancholie, die sich in mir ausbreitet, oder Trauer um verlorene Zeiten.
Ich meine, es sind vielmehr Zufriedenheit, ein stilles Glücksgefühl, eine alles umfassende Harmonie, die hier spürbar werden.
An diesem trüben, feucht-kalten Novembertag fühle ich wie es ist, wenn die Zeit einfach stehenbleibt, wenn die Ewigkeit auf einmal zum Greifen nahe ist. Vergessen ist die hektische Lebenswelt der Großstadt dort draußen auf der anderen Seite der Ziegelmauer, verstummt der Lärm der in unmittelbarer Nähe vorbeiführenden Autobahn.
Ich lasse mich einfach fallen, tauche ein in eine Welt, die seit bald 150 Jahren in sich ruht und sich zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt hat. Ich versuche mit meiner Kamera in Bildern festzuhalten, was längst alle meine Sinne erfasst hat.
Mit einem Mal weiten sich die wild verwachsenen Wege. Ein paar freie Schritte und ich stehe vor einem Stein, dessen Inschrift den Namen jenes Begnadeten trägt, der uns mit seinem Oeuvre Klänge für die Ewigkeit hinterlassen hat. Eines der berührendsten Terzette der Musikliteratur beginnt sich in meinem Kopf zu wiegen.
Dann die ersten Takte aus dem Lacrimosa seines Requiems. Ich habe dieses allerletzte seiner Werke oft gesungen, kenne die Stelle, da der Komponist die Niederschrift der Noten abbrechen musste um vor den Herrn zu treten, um schließlich hier an dieser Stelle seine ewige Ruhe zu finden.
Für ein paar Minuten vergesse ich warum ich hierher gekommen bin.
Wie kalt mir ist, auf einmal bemerke ich, wie klamm meine Hände sind. Die Dämmerung ist angebrochen, bald wird jemand kommen um das Tor zu verriegeln. Wir müssen unseren Besuch beenden.
Wenn ich jetzt die Augen schließe höre ich wieder seine wunderbare Musik, sie weckt die Erinnerung an jenen trüben, feucht-kalten Novembertag . . .